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Unser Theater

Absolventin Melissa Hermann spielt in Ungarn

Sächsische Zeitung vom 01. Juli 2017

Nathan trifft die Beatles

Szekszárd, ein Städtchen am südlichen Rand Ungarns, ist eine Hochburg der deutschen Kultur, von der kaum ein Deutscher etwas weiß.

Da nützen auch die prächtigsten Rebstöcke nichts: Szekszárd liegt für die meisten Deutschen jenseits der allgemeinen Wahrnehmungsgrenze. Das unspektakuläre 34 000-Einwohner-Städtchen markiert den südlichen Rand Ungarns. Vom kirchturmbekrönten Haupthügel aus kann man bis nach Kroatien und genauso gut bis nach Serbien sehen; ein Katzensprung nur noch - schon beginnt der Balkan. Wein wächst hier seit zweitausend Jahren, Wein prägt die Stadt, die Gegend, und Wein ist nicht nur das prominenteste hiesige Produkt, sondern auch für die Touristiker Grundlage fast jeder Werbeidee. Was die Stadt dagegen wirklich besonders macht, fällt oft unter den Tisch. Szekszárd hat ein Theater, das in vielerlei Hinsicht einzig artig ist.

Tom Pilath aus Freital steht dort auf der Bühne, ebenso Melissa Hermann aus Wuppertal. Beide sprechen wenig oder gar kein Ungarisch. Das brauchen sie für diesen Job auch nicht. Sie spielen auf Deutsch Lessings "Nathan der Weise" oder eine Musikklamotte rund um die größten Beatles-Hits, oder sie ziehen mit einem Drogenaufklärungsstück durch die Schulen. Volles Programm, fast immer vor vollem Haus. An sich kein Wunder, ist die Deutsche Bühne Ungarn doch nicht nur das einzige Theater Szekszárds, sondern auch das einzige im gesamten Komitat. Vor allem aber ist es das einzige Theater in Ungarn, das ausschließlich deutschsprachige Inszenierungen herausbringt. "Eine Perle in der Stadt", nennt Intendantin Ildikó Frank das Haus, das sie seit 2004 leitet. "Eine Perle, von der viele leider gar nicht wissen, dass es sie gibt." Im Lächeln der 40-Jährigen schwingt im gleichen Maße Bedauern wie Verständnis mit. "Die Leute hier haben halt andere Probleme, als sich ums Theater zu kümmern." Ein Energiebündel wie sie nimmt diese Herausforderung jedoch dankbar an, liefe es allzu glatt, wäre es für sie nicht mehr attraktiv. Ildikó Frank hat an der deutschsprachigen Fakultät der Schauspielakademie im rumänischen Timisoara (Temeschwar) studiert, besetzt sich selbst regelmäßig in großen wie kleinen Rollen und spart jedes Chefinnengetue aus. Minimaler Akzent, große Gesten und ein Hauch Koketterie - sie könnte jeden dazu bringen, sich für ihr Theater zu interessieren. Hätte sie nur genug Zeit, mit jedem ein paar Minuten zu plaudern.

Wer über den Garay tér, die lauschige Fußgängerzone mitten in der Stadt, flaniert, bremst prompt vor diesem Haus. Das ehemalige Kino "Világ Mozgó" kontrastiert die barocken und klassizistischen Bauten ringsum mit reinster Jugendstilpracht. Schmale Säulen, eine schimmernde Glaskugel auf dem Dach und jede der weichen Linien strahlt leise. Drinnen hingegen wellt wildes Geschnatter.

Kaum noch ein weiterer Besucher vermag sich vorbei an der Glastür ins Foyer zu schieben. Damen etlicher Seniorenklubs wurden dort bereits zwischen drei, vier Schulklassen und die rote Stofftapete gequetscht. Generationsübergreifend sind offensichtlich alle von allergrößter Vorfreude gepackt. Verständlich, doch wo ist die Garderobe? Nirgends. Es gibt keine. Hier hängt man seine Jacke einfach an einen der vielen Haken in der rechten Ecke. Schnell noch ein Gläschen Sekt? Tja, das wird leider nichts. Eine Bar sucht man im ganzen Theater vergeblich. Also nur fix die reservierten Tickets abholen. Doch wo ist die Kasse? In einer Ecke sitzt eine Endfünfzigerin an einem Tischlein und bewacht eine blassrote Blechkiste. Igen, igen, also ja, ja, sie hat die Tickets, kann aber gerade gar nicht wechseln und, komisch für ein deutschsprachiges Theater, kaum Deutsch. Also warten. Gänzlich ungenervt schieben sich zwei potenzielle Kartenkäufer zwischen den Leibern zum Tischlein, zahlen passend und schon reicht das Geld in der Kasse zum Wechseln. Der nächste Deal geht sofort über die Bühne. Exakt 17.05 Uhr, also fast pünktlich zu Vorstellungsbeginn, fliegt die Tür zum Theatersaal auf. Showtime. Drei Damen geben in "Katharina oder William Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung" mit ganzem Stimm- wie Körpereinsatz alles, drei Musiker dazu die stummen Stoiker. Die Besucher, egal ob Teenager oder Greisin, lachen sich scheckig und toben final, schalten jäh den Jubel ab und räumen zügig den Saal. Deutsches Theater in Szekszárd ist etwas anders als in Deutschland, aber es kommt an. Bestens.

Melissa Hermann spielt Battista, Hortensio, eine Platzanweiserin und alles, was in diesem turbulenten Stück sonst noch von ihr verlangt wird, mehrere Dialektwechsel inklusive. "Sehr lustig finde ich, dass der Regisseur Rumäne ist und gar kein Deutsch spricht", sagt sie und lacht glucksend. "Wir hatten ja erst Bedenken, weil er wollte, dass wir mit italienischem Akzent sprechen. Doch das funktioniert. Vielleicht verstehen die Leute uns so sogar besser." Die Leute, sprich: die Besucher der Deutschen Bühne Ungarn, sind vor allem Ungarndeutsche, die in der Region um Szek szárd auf einen Bevölkerungsanteil von knapp acht Prozent kommen.

Mit selbst gemieteten Bussen fahren die meist reiferen Theaterfans aus den Dörfern in die Stadt, regelmäßig läuft es genau andersrum: Die Schauspieler touren durch ganz Ungarn, überall, wo man deutsches Theater haben will, treten sie auf. "Schüler, die Deutsch lernen, kommen auch in unsere Vorstellungen", sagt Melissa Hermann. "Und ganz selten deutsche Touristen." Speziell für Ungarn ohne jegliche Deutschkenntnisse hat das Theater einen Monitor installiert, über den in Echtzeit der übersetzte Text flimmert. Diese Anlage nimmt die Truppe immer mit, wenn sie außerhalb spielt. Und manchmal stiftet diese Technik Verwirrung. "Es passiert schon, dass ich einen Gag auf der Bühne noch gar nicht zu Ende erzählt habe, aber in der Übersetzung ist er durch", sagt Melissa Hermann. "Schon schwierig, da gelassen weiterzumachen, wenn der halbe Saal vor Lachen brüllt."

Die 1984 in Wuppertal geborene Schauspielerin gehört seit 2014 zum Ensemble. Nach der Ausbildung an einer privaten Schauspielschule in Siegburg stand sie in der Bonner Brotfabrik auf der Bühne, tingelte anschließend mit einer kleinen Tourneetruppe und einem deutschsprachigen Programm speziell für Schüler durch England. "Danach wollte ich an ein festes Haus, gerne im Ausland. Durch einen Zufall stieß ich bei der Internetsuche auf die Deutsche Bühne Ungarn - und habe mich sofort beworben."

Sie bekam eine der fünf festen Schauspielerstellen, blieb und hat gerade um ein weiteres Jahr verlängert. "Die Bedingungen sind ja auch mehr als okay: Ich habe eine schicke Theaterwohnung gleich um die Ecke, spiele in jedem Stück große Rollen, kann mich in Dramen wie in Komödien austoben, worauf Anfänger in Deutschland kaum hoffen können. Und das Geld stimmt auch." Ihr Gehalt, sagt Melissa Hermann, bewege sich auf dem Niveau dessen, was in Ungarn Lehrer oder Ärzte verdienen. "Das wäre für ein gutes Leben in Deutschland nicht genug, aber hier komme ich damit bestens hin." Ihr Kollege Tom Pilath merkt, begleitend zu einem sanften Ellbogenstoß, an: "Aber wir machen es ja auch nicht fürs Geld." Und der 1983 in Freital geborene, in Dresden zum Mediengestalter und schließlich in Berlin zum Schauspieler ausgebildete Mann mit dem kantigen Gesicht beginnt zu schwärmen. "Diese deutsch-ungarische Truppe ist so klein wie großartig, eher Freunde als Kollegen, mit denen man alles Mögliche zusammen unternimmt. Dazu ein technisch gut ausgestattetes Haus, flache Hierarchien, blitzschnelle Entscheidungen, interessante Regisseure aus verschiedenen Ländern, also Multikulti vom Feinsten - blöd nur, dass es nie irgendwelche Kritiken in der Zeitung gibt." Zwar sei es nicht schlecht, nie einen Verriss der eigenen Leistung lesen zu müssen, aber völlig ignoriert zu werden, nur um wenig besser.

Intendantin Ildikó Frank hingegen geht sofort in die Luft. "Es ist unfassbar, wie die Regierung in Budapest die ungarische Provinz vernachlässigt. Und die Medien machen dabei alle brav mit." Nur was in Budapest stattfinde, sei überhaupt relevant, empört sie sich. "Nicht einmal das kulturelle Leben in bedeutenden Städten wie Pécs oder Szeged wird wahrgenommen. Als ob da überhaupt nichts wäre." Keine einzige Regionalzeitung beschäftige mehr einen Theaterrezensenten, dafür drucke man von ihr verfasste Premieren-Ankündigungen gerne eins zu eins ab. "Klar, das kostet ja nichts." Auch dass unter dem stramm konservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán viele Intendanten durch solche ersetzt worden seien, die politisch auf seiner Linie liegen, regt sie fürchterlich auf. "Es ist doch mindestens heikel, wenn man die Theaterarbeit in eine bestimmte Richtung beeinflussen will." Sie seufzt kurz und sagt dann knapp: "Für uns hat sich glücklicherweise keiner interessiert." Dabei lässt sich der Staat die Deutsche Bühne Ungarn einiges kosten, immerhin 110 Millionen Forint (rund 355 000 Euro) Jahresetat kommen zusammen. Zudem wurde das Haus erst vor zwei Jahren aufwendig saniert und am 21. September 2016 mit Lessings "Nathan der Weise" wiedereröffnet. Mit dem gleichen Stück hatte man bereits 1994 das damals vom Kino zum Theater umgebaute Haus eingeweiht. Die Schritte dahin waren zunächst kleine. Als 1972 die ungarische Verfassung geändert worden war und Minderheiten plötzlich auf Gleichberechtigung und Verwendung ihrer Sprache pochen konnten, kam bereits die Idee für ein Theater der Ungarndeutschen auf. Doch erst 1982 hatte die "Ungarndeutsche Schaubühne" ihre erste Vorstellung - eine Lesung mit Goethe-Texten im Komitatskulturhaus. Einige Inszenierungen auf geliehenen Bühnen folgten, bis am 1. Juli 1989 die Deutsche Bühne Ungarn starten und fünf Jahre später das eigene Theater beziehen konnte. "Wir haben die Eigentumsrechte zunächst für 30 Jahre", erklärt Angelika Pfiszterer, Kulturreferentin der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, die ihren Sitz in Budapest hat. "Natürlich wollen wir aber über diesen Zeitraum hinaus die sprachliche und kulturelle Identität der in Ungarn lebenden deutschen Minderheit bewahren und entwickeln."

Klare Perspektiven also für Melissa Herrmann und Tom Pilath. Wobei er, der von 2011 bis 2014 fest engagiert war, derzeit nur einen Stückvertrag hat, vorrangig in Dresden und Berlin Dinner-Theater spielt. "Will ich irgendwann noch in Deutschland groß rauskommen?", befragt sich Melissa Herrmann selbst und wirft dabei ihren blonden Zopf über die Schulter. "Ich weiß es nicht. Vielleicht bleibe ich lieber noch ganz lange hier. Denn im Moment reizt mich Theater in Deutschland gar nicht - zu verkopft, zu wenig Spaß."

Von Andy Dallmann